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Aktivierende Verfahren in handlungsorientierten Lernprozessen der beruflichen Rehabilitation

von Willi Brand, 07.08.96

 
Grundlegende Aufsätze zur Methodik im Transferprojekt GhbRE

Unter der Überschrift "aktivierende Verfahren" werden immer wieder Methoden genannt, die nicht leicht voneinander zu unterscheiden sind. Als "Methoden" bezeichnen wir in diesem Zusammenhang "Wege" (griechisch: der Weg auf ein Ziel hin) der handlungsorientierten Arbeit. Reha-Team und Rehabilitanden, die diese Wege gemeinsam gehen wollen, sollten sich darüber verständigen. Dazu sind klare Begriffe erforderlich. Alle "aktivierenden Verfahren" zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie den Teilnehmern viel Entscheidungsfreiheit über ihr Handeln lassen und eine Vielfalt von Aktivitäten ermöglichen, die man im herkömmlichen Unterricht in der Regel nicht findet. Im folgenden werden Unterscheidungen zwischen wichtigen Methoden vorgeschlagen. (Sie werden auch andere Unterscheidungen in der Literatur finden!)

Die Projektmethode

Projekte kennen wir alle aus dem Alltag: Konstruktion und Bau einer technischen Anlage, Planung und Bau eines privaten Hauses, eine große Reise - alle diese Projekte haben gemeinsame Merkmale: sie erstrecken sich über längere Zeit, sie erfordern eine gut überlegte Planung, weil viele Faktoren und die Leistungen von zahlreichen Personen zielgerecht zusammengeführt werden müssen, damit zum vorgesehenen Termin das erwünschte Ergebnis (Produkt) erzielt wird. In der Regel bestehen Projekte nur zu einem Teil aus Routinetätigkeiten - schon die Komplexität bewirkt, daß jedes Projekt neue Anforderungen stellt und neue Risiken zu bewältigen sind. Ob ein Projekt erfolgreich war, wird man vor allem daran messen, wie weit das Ergebnis (das Haus, die technische Anlage, die Reise) seinem Zweck entspricht.

Die pädagogische Projektmethode nimmt viele der genannten Merkmale auf. Auch hier werden die Aktivitäten der Beteiligten vor allem durch das angestrebte Ergebnis (Produkt) motiviert und gesteuert. Das Ergebnis sollte einen klar erkennbaren Gebrauchswert für die Rehabilitanden haben. In technischen Projekten sollte deshalb nichts für die "Schrottkiste" produziert werden, weil der Erfolg des Projektes für die Teilnehmer von seinem Gebrauchswert her erkennbar sein sollte. Daneben gibt es weitere Erfolgskriterien, die sich auf den Arbeits- und Lernprozeß beziehen: War die Planung fachgerecht und sinnvoll? Wurden die Arbeitsmittel kompetent eingesetzt? Wurden auch externe Quellen genutzt, um das Ergebnis zu optimieren? Wurde die Arbeit fachgerecht organisiert und wurden Konflikte produktiv gelöst? Waren Lernfortschritte zu beobachten? usw.
Die Projektmethode eignet sich deshalb besonders, um die Rehabilitanden mit komplexen Aufgaben vertraut zu machen, zu deren Lösung fachliche und soziale Kompetenzen selbstverantwortlich entwickelt und eingesetzt werden müssen.

Die Fallstudienmethode

Auch in der Fallstudie geht es um die Lösung fachlicher Probleme. Während jedoch die Idee zu einem Projekt möglichst auch von den Rehabilitanden entwickelt werden soll, ist der Fall, der zum Ausgangsproblem für die Teilnehmeraktivitäten werden soll, in aller Regel vorgegeben. Für die Fallstudie gilt aber ebenso wie für die Projektidee, daß der Fall die Rehabilitanden zu zielge-richteten Aktivitäten anregen und diese Aktivitäten bis zu einem Ergebnis steuern soll damit vom Lernberater möglichst wenig eingegriffen werden muß. Diese Methode hat eine lange Geschichte in der Ausbildung von Juristen und Betriebswirten, aber sie läßt sich auch in der technischen Ausbildung einsetzen. So könnte z. B. als Fall die Beschreibung einer technischen Störung vorgegeben werden. Auf deren Grundlage wären eine präzise Diagnose und ein Reparaturplan anzufertigen. Zusätzlich könnte für die bessere Bearbeitung zukünftiger Störungsfälle die Anfertigung eines Formulars zur Störungsaufnahme und zur Entscheidungsunterstützung für die Reparatur verlangt werden.

Die mit dem Fall gestellte Aufgabe kann so komplex sein, daß ihre Lösung sorgfältig vorgeplant werden muß und ohne die Kooperation mit anderen (eventuell auch externen Experten) nicht möglich ist. Werden bei der Auswertung auch eine gute Arbeitsorganisation und eine ausgefeilte Präsentation der Fallösung berücksichtigt und sind die Rehabilitanden bei der Fallformulierung beteiligt worden, unterscheidet sich die Fallstudie nur noch graduell von einem Projekt.

Das Planspiel

Das Planspiel hebt sich von der Fallstudie vor allem durch zwei Element ab: zum einen geht es nicht von einer statischen Problemsicht aus, sondern zieht die Konsequenz aus der Erkenntnis, daß unsere Problemlösungen oft nur zu neuen Problemlagen führen, die wir in unserem Handeln vorwegnehmen müssen. Zum anderen ist für das Planspiel bestimmend, daß unsere Problemlösungen bei anderen (Konkurrenten) zu Aktionen führen, die auf die Problementwicklung Einfluß haben; d. h., unsere Lösungen enthalten eine strategische Komponente.
Dieses Beispiel zeigt die Charakteristika des Planspiels: Es wird angenommen, daß in einer Großstadt mehrere technische Kaufhäuser (repräsentiert durch jeweils eine Planspiel-Gruppe) miteinander konkurrieren. Welche Entscheidungen sollten die Geschäftsleitungen der einzelnen Unternehmen treffen, damit sie in fünf Jahren möglichst erfolgreich wirtschaften können und eine gute Marktposition haben? Die Planspiel-Anleitung beschreibt eine bestimmte wirtschaftliche Ausgangslage und Entscheidungsmöglichkeiten. So kann der Werbeetat ausgeweitet werden oder durch Großeinkäufe können Preissenkungen erzielt werden. Eine weitere mögliche Maßnahme wäre die intensivere Schulung der Berater im Verkauf und des Servicepersonals, um dadurch Kunden zu gewinnen. Alle diese Maßnahmen finden ihre Grenzen im beschränkten Budget und - "die Konkurrenz schläft nicht" - in den Maßnahmen der anderen Unternehmen, die konkurrierende Ziele verfolgen. Jede Unternehmensleitung wird sorgfältig alle verfügbaren Informationen im Zeitablauf auswerten, um ihre Strategie möglichst wirkungsvoll zu gestalten. Wie sich die Einzelaktionen auswirken (z. B. die Erhöhung der Werbeausgaben um 10%), ist bei PC-gestützten Planspielen in einem quantitativen Modell festgelegt, das dem PC-Programm unterliegt und das möglichst die realen Beziehungen zwischen den verschiedenen Steuergrößen wiedergeben soll.
Das Modell ist den Teilnehmern nicht bekannt. Allerdings lassen sich gewisse Beziehungen auf der Grundlage des eigenen Fachwissens aus dem Spielverlauf erschließen. Insofern kann die Entwicklung von Fachkompetenz - gerade auch im Bereich "vernetzten Denkens" - gefördert werden. Außerdem werden Strategie und Dynamik als wichtige Merkmale unternehmerischen Handelns deutlich.
Varianten des Planspiels sind die Szenario-Methode (z. B.: Umstellung der Fertigung vom Fließband auf Fertigungsinseln) und solche Planspiele, bei denen es vor allem auf soziale Interaktionen ankommt (z. B.: Betriebsrat und Unternehmensleitung verhandeln über einen Sozialplan im Zusammenhang mit Rationalisierungsmaßnahmen). Das letzte Beispiel kann jedoch auch bereits als Rollenspiel bezeichnet werden.

Das Rollenspiel

Während die bisher angesprochenen Methoden ihren Schwerpunkt in der Förderung der Fachkompetenz hatten, ist das Rollenspiel stärker auf die Förderung der Sozialkompetenz ausgerichtet. Die vielen verschiedenen Formen des Rollenspiels haben alle gemeinsam, daß sie von dem Sachverhalt ausgehen, daß unser Handeln von sozialen Erwartungen geprägt ist: der Kommunikationselektroniker, der als Servicetechniker im Außendienst arbeitet, "spielt" seine Rolle ebenso wie der Kunde, der bestimmte Erwartungen an seine Fachkenntnisse, Sorgfalt und Freundlichkeit stellt und die eigenen Interessen gewahrt wissen möchte. Das Rollenspiel soll dazu beitragen, diesen sozialen Sachverhalt zu verstehen und in schwierigen Situationen angemessen zu handeln.
Ein Rollenspiel könnte etwa dadurch initiiert werden, daß im Anschluß an das Betriebspraktikum der Wunsch geäußert wird, sich besser auf Konflikte mit Vorgesetzten und Kollegen vorzubereiten. Konfliktsituationen, die für typisch gehalten werden, werden mit den entsprechenden Rollen durchgespielt und anschließend von den Spielern und den Beobachtern analysiert und kommentiert. Für den Lernerfolg ist vor allem die gründliche Vorbereitung der Rollenspieler und der Beobachter entscheidend! Das gilt einmal im Hinblick auf die Rollen und die damit verbundenen Erwartungen und Interessen, die möglichst klar sein sollen. Aber es betrifft auch den persönlichen Anteil der Spieler an der Ausfüllung der Rollen sowie die Kommentierung durch die Beobachter. Auf jeden Fall ist darauf zu achten, daß keine psychischen Verletzungen auftreten.
Auch wenn mit dem Rollenspiel vor allem die Sozialkompetenz gefördert werden soll, ist es sinnvoll, Bezüge zur Fachkompetenz zu berücksichtigen. Für den beruflichen Erfolg des erwähnten Kommunikationselektronikers ist es unerläßlich, daß er auch gegenüber Kunden komplizierte Sachverhalte so erläutern kann, daß diese sie verstehen und z. B. ihre private Telefonanlage selbst programmieren, kleinere Fehler diagnostizieren oder sich auch begründet für eine Integration der Türsprechanlage entscheiden können.
Das Rollenspiel kann auch in Verbindung mit den oben genannten Methoden eingesetzt werden, um Arbeitsergebnisse anschaulich zu präsentieren oder um im Planspiel (s.o.) z. B. die Arbeitsteilung zwischen Finanzvorstand und Vertriebsvorstand und die damit verbundenen Interessenkonflikte aufzugreifen.
Es gibt Varianten des Rollenspiels (z. B. das Psychodrama), die in der Psychotherapie eingesetzt werden. Sie sollten nie ohne eine entsprechende Ausbildung verwendet werden.

Fazit

In der Praxis handlungsorientierter Arbeit mit Rehabilitanden wird man die erwähnten Methoden nicht immer "lupenrein" realisieren können - und auch nicht wollen. Es ist aber wichtig, sich vor allem bei der Planung sicher verständigen und dabei die Stärken und die Grenzen der Methoden richtig einschätzen zu können.


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aktualisiert: 05.07.00
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